Vor einem Monat habe ich auf Netflix einen Film namens „Le Jeu – Nichts zu verbergen“ 1 gesehen. Im Film geht es darüber, dass bei einem Abendessen eingeladene Freunde ihr Handy offen auf dem Tisch liegen lassen sollen. Jeder Anruf, jede Nachricht, jede E-Mail die er oder sie im Laufe des Abends bekommt, soll laut vorgelesen oder beantwortet werden. Der Anlass dafür ist die Behauptung aller Gäste, dass sie vor einander ohnehin nichts zu verbergen hätten. Durch unerwartete Ereignisse wird die Situation mit jeder Minute angespannter.
Der Grund für diesen Artikel ist es jedoch nicht, über den Film eine Rezession zu schreiben (obwohl ich den Film sehr empfehlen kann). Vielmehr möchte ich mich auf einen Dialog, ein Gespräch am Telefon zwischen einem Vater (Vincent) und seiner in der Adoleszenz befindlichen Tochter (Margot) fokussieren.
Der Dialog lautet wie folgt:
Vincent: Hi, Schatz, alles okay?
Margot: Ja, alles okay. Kann ich kurz mit dir reden?
Vincent: Klar, schieß los.
Margot: Wie soll ich sagen… Tristans Eltern sind heute nicht da. Er will, dass ich die Party verlasse und mit ihm nach Hause gehe. Nur wir zwei. Und… Nun ja, du… Verstehst du? … Papa?
Vincent: Und wie fühlst du dich dabei?
Margot: Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe das nicht erwartet. Zumindest nicht heute. Und es ist so, dass es zwischen uns ganz komisch wird, falls ich nein sage. … Was mach ich denn jetzt?
Vincent: Wenn du nur nicht willst, dass es komisch wird, dann geh nicht. Du musst dir sicher sein.
Margot: Ich… weiß nicht, was ich tun soll. Als du mir heute früh die Kondome gegeben hast, habe ich mich unwohl gefühlt.
Vincent: Du musst sie doch nicht heute Abend benutzen.
Margot: Ich glaube, du hast das geahnt. Und Mama ist es total entgangen. Wie immer. … Papa?
Vincent: Ja, Schatz.
Margot: Was soll ich machen?
Vincent: Weißt du… es ist für einen Vater nicht leicht, seiner Tochter etwas zu raten, wenn es so wichtig ist. Ginge es nur um mich, würde ich sagen: „Mach es nicht. Mach es nie. Bleib für immer mein kleines Mädchen.“ Aber das geht nicht. Das ist deine Entscheidung. Diesen Moment wirst du nie vergessen. Also sollte es eine gute Erinnerung sein. Das klingt jetzt sentimental, aber es gibt nur ein erstes Mal. Wenn du dir also nicht sicher bist, mach es nicht. Es gibt noch mehr Momente, glaub mir.
Margot: Ja. Danke, dass du für mich da bist. Mama hatte mich nur angeschrien. Sie versteht gar nichts. Hört mir nie zu.
Vincent: Doch, sie hört dir zu, aber… Es ist auch nicht einfach für sie. Sie denkt manchmal, dass du sie auch nicht verstehst.
Margot: Ich glaube, du liebst sie zu sehr, um zu sehen, wie nervig sie wirklich ist. Okay, er ist da. Ich lege auf.
Vincent: Margot.
Margot: Danke. (Quelle: Netflix Untertitel)
In diesem Dialog kann man die komplexe Dynamik beobachten, die in der Familie zwischen der Tochter, dem Vater und der Mutter (Marie) herrscht. Es geht um ein Beziehungsdreieck dessen Teile drei Zweierbeziehungen sind (zwischen Vater und Tochter, zwischen Mutter und Tochter sowie die Paarbeziehung), die miteinander zusammen hängen und sich auch wechselseitig beeinflussen. Was noch wichtiger ist ist die Tatsache, dass es um die Adoleszenz der Tochter geht. Der adoleszente Wandlungsprozess bringt diese Familie in eine Situationen, in welcher nicht nur die Tochter verunsichert, verwirrt und verloren ist, sondern auch ihre Mutter und ihr Vater.
Die Beziehung zwischen der Mutter Marie und der Tochter Margot scheint angespannt zu sein und mit dem Vorwurf geladen, dass Marie Margot nicht versteht. Nichtsdestotrotz scheint Marie Margot genug Zugriff und Raum zu ihrem Vater Vincent zu geben. Margot ist mit Vincent in einer Beziehung, die qualitativ anders ist als jene zwischen ihr und Marie, und sie traut sich, Vincent ihre große Verzweiflung mitzuteilen. Die Mutter präsentiert sich Margot gegenüber nicht als derem Rivalin, um den Vater nur für sich zu haben, sondern als ihre Mutter, die mit ihrem Vater eine feste Partnerschaft führt.
Wie schon am Anfang des Artikels erwähnt, möchte ich mich auf die Beziehung/den Dialog zwischen dem Vater und der Tochter fokussieren. Der Vater ist für die Tochter in dieser Situation die wichtigste Person, der sie ihre Gedanken und Verzweiflung mitteilen möchte. Sie hätte das nicht machen müssen, hätte sich einfach ohne ihn entscheiden können. Sie hat sich jedoch dazu entschieden, sich dem Vater mitzuteilen, da sie das Gefühl hat, dass er sie versteht, ihre Gedanken „ertragen“ kann, und einfach für sie da ist.
Auf der anderen Seite geht es auch darum, dass der Vater sich mit der Verzweiflung und Verwirrung der Tochter auseinanderzusetzen möchte und bereit ist ihr zuzuhören. Auch er hätte das nicht tun müssen. Er hätte sie einfach auf verschiede Art und Weise abweisen können. Eine zur Frau werdende Tochter ist nämlich auch für ihren Vater mit Gedanken, Emotionen, Wünschen und Phantasien verbunden, die in diesem eine große Verwirrung auslösen. Das Mädchen wird zur Frau.
Um dies aus der Sicht des Vaters psychodynamisch beschreiben zu können möchte ich an diesem Punkt die Teile aus einem interessanten Artikel über die Dynamiken in der Vater-Tochter Beziehung zitieren (Flaake, K., 2003, S. 414):
„Die in der Kindheit der Tochter als Ausdruck wechselseitiger Zärtlichkeit erlebten körperlichen Kontakte, z. B. Umarmungen, erhalten eine neue Qualität. Der weibliche Körper der Tochter wird spürbar, Veränderungen werden sichtbar und können mit als bedrohlich erlebten erotischen Wünschen und Phantasien verbunden sein. Wenn die bei Vätern durch die zur Frau werdende Tochter ausgelösten Gefühle nicht in entlastenden Erwachsenenbeziehungen und durch von der Tochter abgegrenzte Bewältigungsstrategien aufgefangen werden können, gibt es eine Verführung, in der Tochter das eigene als bedrohlich Erlebte zu bekämpfen und abzuwehren. Sexuelle Wünsche und Phantasien werden dann in den Körper der Tochter verlegt und dort in Schach zu halten versucht. Solche Stabilisierungsversuche können anknüpfen an gesellschaftliche Bilder weiblicher Körperlichkeit und Sexualität.
Eine nicht selten bei Vätern zu findende Form des Umgehens mit den zugleich als verführerisch und bedrohlich erlebten körperlichen Veränderungen der Tochter besteht darin, sie ironisch zu kommentieren – eine Haltung, die als »lustiger«, »spaßiger« Umgang mit der Pubertät der Tochter beschrieben und als Bestandteil einer »lockeren« Familienkommunikation gesehen wird. Die von Vätern selbst geschilderten Kommentierungen beziehen sich dabei direkt auf den Körper der Tochter und häufig auf die Brüste […].“
Die zur Frau werdende Tochter bedeutet auch für Vincent eine neue Lebenssituation und fordert innerseelische Arbeit, worin er offensichtlich erfolgreich ist. Er ist in dieser Situation nicht nur physisch, sondern auch emotional präsent. Er hat sich nicht für die Flucht und Abwendung durch Ironie entschieden, er hat sich nicht für die Kontrolle des (Sexual)lebens der Tochter entschieden, er ist nicht abwesend geworden und er hat auch nicht inzestuös reagiert. Er hat geschafft „[…] eigene mit der Körperlichkeit und Sexualität der Tochter verbundene Probleme [nicht] auf Kosten der Tochter und der Wertschätzung ihrer weiblichen Körperlichkeit und ihres Begehrens zu lösen“ (Flaake, K., 2003, S. 420). Er hat für die Gefühle, die durch die zur Frau werdenden Tochter ausgelöst wurden, eine Entlastung und Lösung in seiner Erwachsenenbeziehung zu seiner Frau gefunden.
„Die Qualität der Paarbeziehung ist für den begrenzenden Rahmen entscheidend, der notwendig ist, damit sexuelle Wünsche und Phantasien zwischen Tochter und Vater sich gefahrlos entfalten können. Nur wenn alle Beteiligten sicher sein können, daß der Ort für sexuelle Beziehungen eine Paarbeziehung der Erwachsenen ist, können inzestuöse Phantasien aufgelöst werden: auf seiten des Vaters durch die deutliche Etablierung der Generationengrenzen und Bearbeitung der auf die Tochter bezogenen Wünsche und Phantasien in klarer Abgrenzung von ihr als eigene innerpsychische Gegebenheiten, auf seiten der Tochter, indem die Eltern als das Paar akzeptiert und sexuelle Wünsche und Phantasien gelöst werden aus der Beziehung zum Vater und außerhalb der Familie ihren Ort finden“ (Flaake, K., 2003, S. 422).
Flaake (2003, S. 422) schreibt weiter: „So besteht für Väter adoleszenter Töchter die innerpsychische Arbeit darin, sich der Generationengrenzen zur Tochter zu versichern und das eigene Begehren in die Beziehung zu einer erwachsenen Partnerin einzubringen. Dabei bedeutet die innerpsychische Trennung von der Tochter für Väter zugleich, sich mit dem eigenen Älterwerden und dem Vergehen der Lebenszeit auseinanderzusetzen […]“.
Es geht um „[…] die Auseinandersetzung mit der Generationendifferenz (vgl. King 2002 b) und mit dem eigenen Leben: mit bisher Erreichtem und als befriedigend Erlebtem, mit unerfüllten Wünschen und Hoffnungen, mit den durch das Älterwerden gesetzten Grenzen und dem jetzt Möglichen“.
Der Prozess der zur Frau werdenden Tochter ist eine komplexe Herausforderung, welche die ganze Familie betrifft. Es geht nicht nur um die physischen Änderungen, sondern auch um die inneren Änderungen der Tochter und ihrer Eltern. Mit dem Dialog zwischen Margot und ihrem Vater Vincent und dessen Interpretation möchte ich einen zusätzlichen und psychodynamischen Blick auf die Tochter-Vater Beziehungen öffnen sowie eine Grundlage für Reflexion bieten.